Versuch über das Porträt

Lothar Rumold:

Vor dem Anlauf zu einem Versuch über das Porträt

„Was tun Sie“, wurde Herr K. gefragt, „wenn Sie einen Menschen lieben?“ „lch mache einen Entwurf von ihm“, sagte Herr K., „und sorge, daß er ihm ähnlich wird.“ „Wer? Der Entwurf?“ „Nein“, sagte Herr K., „der Mensch“. (Bertolt Brecht)

Von einem Porträt sollte man nicht zu viel erwarten oder gar verlangen. Vor allem nicht, dass ihm der oder die Porträtierte ähnlich sieht, jedenfalls nicht von Anfang an. Bis der Mensch, den Herr K. liebte, dem Entwurf, den Herr K. sich von ihm gemacht hatte, ähnlich sah, wird es auch eine Weile gedauert haben. In Oscar Wildes Roman-Erzählung Das Bildnis des Dorian Gray glich der in prekärer Permanenz porträtierte Titelheld erst posthum auch in seiner äußeren Erscheinung dem eigenen in einer Dachkammer unter Verschluss gehaltenen Porträt, das den moralischen Verfall des
im Bildnis zur Kenntlichkeit Entstellten über Jahre hin gewissenhaft protokolliert hatte. Hier erreicht, nebenbei bemerkt, das Kunstwerk als Prozess einen geradezu gespenstischen Grad an Autonomie.
Dorian Grays Erfahrung ist, wenn wir den fiktiven Kontext der forcierte Immoralität einmal außer Acht lassen, keine ungewöhnliche oder gar fantastische. Denn vom Standpunkt des Porträtierten, der sich seiner Identität nachhaltig gewiss ist, wird es stets das Porträt sein, das sich im Lauf der Jahre allmählich wandelt und ihm, dem angeblich im Bild Festgehaltenen, auf beängstigende Weise unähnlich wird. Ansonsten hat das gewöhnliche Porträt zunächst und im Prinzip nichts Furchterregendes an sich. Es entspringt, könnte man sagen, dem Bedürfnis, einer bestimmten Person in der Sphäre des Artifiziellen zu einem Bild-Äquivalent zu verhelfen. Er, sie oder es wird damit der Kunst eingebildet und in deren Welt Bürger. Hat nicht auch der Höchste sein Ebenbild ins Zentrum jenes durch seine Hand und sein allmächtiges Wort gerade erst kunstvoll geschaffenen Kosmos gestellt? Damit hatte (und hat) ER im Erscheinungsbild des Menschen ein Gegenüber, das es ihm zum einen ermöglichte (und ermöglicht), einen Blick auf die eigene Oberfläche zu werfen, und sich zum anderen an diesem Ego-Symbol hermeneutisch in Form zu halten: „All art is at once surface and symbol“, schrieb Oscar Wilde in seinem Vorwort zu The Picture of Dorian Gray und fügte hinzu, wer unter die Oberfläche vordringe oder das Zeichen deute, tue das auf eigene Gefahr. Vom Porträt wird nicht selten gefordert, dass in ihm die wiedererkennbar porträtierte Person sozusagen auf ihr Inbild oder auf ihren Bild-Begriff zu bringen sei. Das (innere) Wesen eines Menschen soll in seinem Porträt zur (äußeren) Erscheinung gebracht werden. Zwischen außen und innen wird dabei eine provisorische Differenz zum Zweck ihrer realen Negation durch das gelungene Porträt postuliert. Diese Porträt-Ideologie verflüchtigt sich zusammen mit der Innen- Außen-Dichotomie, sobald man feststellt, dass über alles, was wahrzunehmen und als ein und
derselbe Gegenstand anzusprechen ist, auch beliebig viel ausgesagt werden kann. Das Porträt ist nicht die Antwort der Kunst auf die Frage nach dem Wesen des Menschen als Gattung oder als Individuum.
Mehr noch als alle Lust (und alle Lüstchen) sind es die Porträts (sofern sie sich ihrer Tradition affirmativ bewusst sind), die Ewigkeit wollen. Während das Selfie in einem Atemzug mit dem One- Night-Stand genannt werden darf, ja muss, verlangt das Porträt einen Kotext, dessen sprachliche
Ausdrücke konnotativ kompatibel sind mit Wörtern wie Nachhaltigkeit, Wesen, Identität, Authentizität, Ganzheitlichkeit, Charakter, Persönlichkeit und so weiter – stammt es doch aus einer Zeit, in der das multiple Ich zwar schon vorkam, aber noch nicht entdeckt worden war. Wer heute Porträts malt, zeichnet oder auf andere Weise zustande bringt, schreckt entweder vor nichts zurück oder findet Mittel und Wege, um die Unmöglichkeit des Porträtierens im Bild Bild werden zu lassen, dialektisch: um das Porträt im Porträt (dreifach) aufzuheben. In die erste Kategorie fallen Maler wie Lucien Freud und David Hockney, in die zweite fällt Markus Jäger, dessen umfangreiche Porträt-Serie bei genauerem Hinsehen den Untertitel trägt: Erinnerungen an ein Genre.